Rezension: Netflix-Film "I'm Thinking of Ending Things" (2024)

Es ist eine ziemlich eisige Welt, in die Jake (Jesse Plemons) seine neue Freundin (Jessie Buckley) entführt. Ein Winternachmittag. Er holt Lucy in der Stadt ab, um mit ihr auf die Farm seiner Eltern zu fahren. Die Unterhaltungen im Auto drehen sich um morgen, sie muss nach Hause, eine Arbeit muss fertig werden, es geht um Ganglienzellen. Und schnell weiß man nicht mehr, wo ihre Worte aufhören und ihre Gedanken anfangen. Wir sind seit vier Wochen zusammen, nein sechs, vielleicht sieben - das hat sie doch nicht laut gesagt. Er scheint mit seinen Fragen um sie herumzuschleichen, als wollte er herausfinden, was in ihrem Kopf vorgeht und was er tun muss, damit der Abend mit den Eltern kein Desaster wird. Brauchst du noch was für den Fall, dass meine Mutter gar nicht gekocht hat? Fast könnte man sich in einer Beziehungsanalyse wähnen, die sich Ingmar Bergmans Dialoge zwischen Männern und Frauen zum Vorbild genommen hat, aber da sind auch ein paar Szenen, die einen alten, einsamen Schulhausmeister bei der Arbeit zeigen, und in diesem Auto, das durch die dämmrige, verschneite Provinz fährt, herrscht eine Atmosphäre wie in einemHorrorfilm.

So beginnt "I'm Thinking of Ending Things", der neue Film von Charlie Kaufman, der jetzt auf Netflix zu sehen ist. Kaufman hat das Drehbuch zu "Being John Malkovich" von Spike Jonze und zu George Clooneys "Confessions of a Dangerous Mind" geschrieben und zwei sehr komplizierte, introspektive eigene Filme inszeniert - "Synecdoche, New York", mit Philip Seymour Hoffman als Theaterregisseur, der die ganze Welt auf einer Bühne abbilden will, und "Anomalisa" über einen motivationslosen Motivationstrainer, der auf einer Dienstreise eine kurze Affäre hat, gedreht mit Puppen im Stop-Motion-Verfahren. Seine Protagonisten sind im Allgemeinen Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs, und Jake ist da keine Ausnahme. Auch er ist ein Verzweifelter am Ende seines Weges, aber wieso das so ist, versteht man erst amSchluss.

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Die Tanzszenen sind sicher umso schöner, je größer die Bildfläche ist, auf der man sie sich ansieht

Auf der Farm bei den Eltern (Toni Collette und David Thewlis) wird es noch seltsamer. Die Mutter lacht zu laut, und die neue Freundin soll bloß nicht in den Keller gehen. Und als sie dann doch beginnt, durchs Haus zu gehen, wandert sie durch die Zeiten, hinter jeder Tür eine andere Lebensphase. Der Vater als dementer Greis, die Mutter als todkranke, dann als junge Frau. Und die Freundin selbst ist auch ausgesprochen wandelbar. Lucy heißt auch mal Louise, einmal nennt Jake sie Ames, die einzige Fortentwicklung, gegen die sie rebelliert, ansonsten fügt sie sich in jede Ansage: Sie ist am Tisch nicht mehr für Ganglien zuständig, sondern Malerin, die den Eltern Fotos ihrer Bilder zeigt, dann Gerontologin. Mal zitiert sie aus Filmkritiken von Pauline Kael, um ihn zurechtzuweisen; dann wieder ist sie ganz bewundernd. Und irgendwann ist sie zweimal da, wenn dieser merkwürdige Abend, in dem Jahrzehnte zu stecken scheinen, zu seinem Finale abhebt. Da sind die beiden endlich aufgebrochen, haben bei einem Diner im Niemandsland gehalten und sind schließlich nachts auf den Gängen der Schule gelandet, wo die Geister aus Jakes Kopf das Musical "Oklahoma"aufführen.

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Die Tanzszenen sind sicher umso schöner, je größer die Bildfläche ist, auf der man sie sich ansieht; und die traurigen Schneelandschaften und langen Schulkorridore. Kaufman hat sich anders auf sein Medium eingestellt, "I'm thinking of Ending Things" ist fürs wiederholte Ansehen gemacht. Er hat winzige Spuren in einem Labyrinth der Gedanken gelegt, was wirklich da ist und was nur Projektion, welche Figuren ein und dieselbe Person sind, und wer hier was beenden will - viel zu viel, als dass man beim einmaligen Ansehen alles erfassen könnte, was er in den Bildern versteckt hat. Das ist irgendwie ganz schön, man sollte nur ganz viel unverbrüchliche Zuversicht mitbringen, wenn man ihm folgt. Letztlich ist "I'm Thinking of Ending Things" eine furios verfilmte Depression, Träumereien über ein ungelebtes Leben. Einfallsreich und virtuos und vielleicht sogar irgendwie großartig; aber viel zutraurig.

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